„Sehr geehrte Frau Zaugg“, mit diesen Worten beginnen viele Emails, die ich in meinem Nebenjob an der Hotelrezeption erhalte. Und dies obwohl mein Vorname Gabriel jetzt nicht ein typisch weiblicher ist. Ich habe mich schon oft gefragt, wieso dies immer wieder passiert. Kann es wirklich sein, dass wir unbewusst so sozialisiert werden, dass wir uns Rezeptionsmitarbeitende weiblich vorstellen? Auch wenn in den letzten Jahren viel Sensibilisierung zu Themen wie toxischer Männlichkeit oder binären Geschlechterrollen passiert ist, so scheinen viele Stereotypen unbewusst in unseren Köpfen weiterzuexistieren. Und Leute, die mit ihnen brechen (oft auch queere Menschen), werden kleingeredet, beleidigt, nicht ernst genommen, oder ihnen wird nicht zugehört. Ihren wissenschaftlich fundierten Aussagen wird schlichtweg widersprochen. Aber wieso werden eigentlich wachsende marginalisierte Gruppen, wie z.B. queere Menschen, schnell zum Feindbild des „weissen Mannes“?
Die Leiden des jungen Mannes
Schon im Alter von nur 3 Jahren sind soziale Stereotype gefestigt. Kinder können bereits unterscheiden, was als Mädchen oder Junge von ihnen erwartet wird. Früh lernt’s sich also ein „richtiger“ Mann zu sein. Schon Babys tragen Strampler mit Aufschriften wie „Frauenheld“. Jungs wird beigebracht, wie sie sich durchsetzen können. Oft ohne Rücksicht auf Verluste. Ihnen bleibt es deshalb leider immer noch oft verwehrt, einen richtigen Umgang mit ihren Emotionen zu lernen. Ihnen wird vorgelebt, immer „stark“ sein zu müssen. Nicht zu weinen. Nicht schwach, also „kein Mädchen“ zu sein… Dabei kommen Dinge, wie sich zu entschuldigen oder Fehler zuzugeben, leider oft zu kurz. Die Auswirkungen davon sind drastisch. Und dies nicht einmal nur auf alle um sie herum, nein, genauso auch für die Jungs und Männer selbst. Sie leiden darunter keine Schwäche zeigen zu dürfen und jeden Tag beweisen zu müssen, ein richtiger Mann zu sein. Männer entwickeln öfter schwere psychische Störungen, da es ihnen die patriarchale Gesellschaft nicht erlaubt, offen über ihre Probleme zu sprechen. Auch neigen sie viel stärker zu Risikoverhalten, da sie unter dem konstanten patriarchalen Druck stehen, die Rolle, die sie sich selbst geben, erfüllen zu müssen. Jungs wird vorgelebt, sich dem bereits möglichst früh anzupassen. Serien, Social Media, Werbung, ja oft sogar die eigene Familie kreieren eine Art Sog. Sie geben dem Ganzen eine magische Anziehungskraft. „So wirst du ein richtiger Mann! Denn wer von uns möchte schon nicht „richtig“ sein? Männer zwingen sich, möglichst viele der Stereotype zu erfüllen. Den Sog zu stärken. Andere mit reinzuziehen.
Für diese jungen Männer ist es dann unglaublich schmerzhaft zu sehen, dass es andere gibt, die sich ganz bewusst den patriarchalen Normen widersetzen. Und dabei sogar noch glücklicher denn je sind. Diese Männer*, die plötzlich alles tun, worauf sie Lust haben, und sich dabei nicht einmal schämen, lösen Missgunst aus. Beispielsweise Queers würden sich ja schliesslich nicht einfach dem Patriarchat widersetzen dürfen, wenn sie selbst das auch nicht konnten. Anfällig für Missgunst sind besonders Menschen mit bereits tiefem Selbstwertgefühl. Dies entsteht besonders oft im sozialen Gefüge von jungen Männern aus dem unglaublich hohen Druck ihre patriarchale Vormachtsstellung jeden Tag neu zu beweisen. Aus ebenjener Missgunst folgt das Bedürfnis, den anderen die eigenen Normen aufzuzwingen. Was rein verbal beginnt, wird dann leider auch oft handgreiflich. Denn physische Gewalt ist das Mittel gegen alle, die sich nicht mehr kleinreden lassen. Wem Beleidigungen und Verunsicherung nichts mehr anhaben, dem müssen halt physische Gewalt, ja sogar Mord angedroht werden. Je weniger sich mensch den patriarchalen Normen beugt, desto mehr Druck muss ausgeübt werden. Druck, damit niemensch mehr „darf“ als sie selbst.
Dieser Mann fürchtet den Verlust seiner lange alleine für sich beanspruchten Macht. Und er stellt die Erhaltung seiner Dominanz über sein eigenes Wohlergehen. Mann sterbe also lieber als König als als Fürst zu leben. Dieses Verhalten steht sinnbildlich für eine Welt, in der mensch nicht ums Überleben kämpfen muss. Er fühlt sich deshalb in seiner Existenz bedroht durch alle, die offen, sei es durch Worte oder durch Taten, an der Legitimität seiner Dominanz in der Gesellschaftsordnung zweifeln. Dahinter versteckt sich die Angst, plötzlich tatsächlich an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Die Angst, nicht zu genügen und deshalb an Status zu verlieren. Und statt das Problem objektiv anzugehen, nämlich seine eigenen Qualitäten zu verbessern und sich so für sein eigenes Wohlergehen einzusetzen, wird oft der eigene, subjektiv als höher wahrgenommene „Status“ genutzt, um die anderen schlecht zu machen. Ihnen wird genau das eingeredet, wovor sie sich selbst fürchten. Dass sie nicht genug wären in den Augen derer, die die Macht besitzen.
Kann Mann denn nicht alles sein?
Doch seit einigen Jahren zeigt sich glücklicherweise eine beginnende Trendwende. Denn immer mehr männlich gelesene Personen können und wollen nicht länger Teil dieses sich selbst zerstörenden Systems sein. Es sind Männer*, die bewusst brechen mit der cis-Heteronormativität. Es sind Männer* wie Fussballprofi Fabian Reese, die auch im Fussballstadion, einer patriarchalen Festung, Nagellack tragen. Oder wie Influencer Kris Grippo, der sich trotz eisigem Gegenwind dafür einsetzt, dass sich jeder Mann schminken kann. Männer*, die mit Stolz und Ehre ihre „Männlichkeit“ neu definieren. Männer*, die lieber gesund als „normal“ sind. Männer*, für die Femininität, Homosexualität, oder anders Sein nie ein Zeichen von „Schwäche“, geschweige denn eine Beleidigung waren. Männer*, die sich nicht zu schade sind, sich um sich selbst zu kümmern. Männer*, die nicht zu feige sind, zu sich selbst zu stehen. Männer*, die sich dem toxischen Sog des Patriarchats entzogen haben. Männer*, die aufgehört haben, auf Männer zu hören. Männer*, die stattdessen beginnen, sich mit anderen Männern* zu vernetzen. Sie sind der neue starke Mann*.
Infobox: Mann vs. Mann*
Ich habe mich in diesem, wie auch in weiteren von meinen Texten bewusst für die Begriffe „Mann“ und „Mann*“ entschieden. „Mann“ (kursiv) steht für unser cis-heteronormatives Wahrnehmungsbild von Männern und Männlichkeit, mit dem auch ich mich nicht identifizieren kann oder will. „Mann*“ soll einen neuen Begriff schaffen, der Platz bietet, für alle, die sich damit wohlfühlen. Er soll die neue, starke „Männlichkeit“ definieren, die keine Angst vor Schwäche oder Machtverlust hat. Er soll für eine Welt stehen, in der jeder Mensch alles sein kann und in der das soziale Geschlecht keine Rolle mehr spielt.