Ich gehörte nicht zu den Jungs, die sich die Shirts vom Oberkörper rissen, sobald die Sonne durch die Wolken brach, Salitos Flaschen durch die Nacht trugen oder im Sommer von hohen Brücken in Flüsse sprangen. Natürlich war ich auch kein Mädchen, Schminke, Twilight und Justin Bieber waren nichts für mich. Christliches Massen-Singen befremdete mich ebenso wie das akademische Vokabular der Juso. Ich stand in meinen uncoolen Trekkingschuhen und Softshell-Jacke irgendwo unauffällig, ganz weit hinten. Ich starrte auf das Etikett einer Bierflasche und zupfte daran herum, weil Menschen Bier anscheinend trinken, wenn sie erwachsen sind.
Ich liess meine Haare lang wachsen, das dürfen Männer, wenn sie Metal hören. Was ich auch machte, Death- und Doom-Metal vor allem. Die Energie floss vom MP3-Player durch die Kabel in die In-Ear-Kopfhörer und spülte durch meinen Bauch wie ein mächtiger Strom.
Als mir eine mir sehr nahe Person, fast flüsternd, erzählte, dass sie womöglich auch auf Frauen stehe, konnte ich das gut nachvollziehen. Warum sollte Anziehung sich an Geschlechtergrenzen halten? Männer machten mir jedoch eher Angst. So viel TOXIC MASCULINITY¹ und je mehr ich von den feministischen Denker*innen lernte, desto mehr Muster und unangenehmes Verhalten sah ich bei Männers in meinem Alltag sowie in meinem eigenen.
Eine Indie-Party in einem kleinen Basler Club am anderen Ende der Stadt. Ich war 24, die Nacht noch jung, doch noch immer zu kalt. Als ich alleine in der Menge tanzte, tauchte plötzlich vor mir eine männlich gelesene Person auf. Sie hatte vorhin bereits eine ganze Weile an der Wand gelehnt. Durch die laute Musik rief sie in mein Ohr: “Je veux danser avec toi! Mais, je suis pas GAY!” (Ich möchte mit dir tanzen. Aber ich bin nicht schwul!) Ich hatte nichts dagegen und so tanzten wir, uns lose an der Hand haltend, für einen Track oder so, bevor die Person verschwand.
Diese Person liess mehr Fragezeichen bei mir zurück, als ich erwartet hätte. Es war nicht so, dass sie mir gefallen hätte, doch weshalb musste sie so betonen, dass sie auf keinen Fall schwul war, jedoch gern mit einer ebenfalls männlich gelesenen Person tanzen möchte?
Am nächsten Tag sass ich im Zug, zurück nach Hause.
Ganz abgesehen von der Situation am Tag zuvor, war ich überhaupt sicher, dass ich nicht auch GAY! war? Ehrlich hatte ich mir diese Frage noch nie gestellt, sie war durch eine Firewall von internalisierter Homophobie abgefangen worden. Nun fühlte es sich so an, als könnte ich diese Mauer abtragen und meine Gefühle und Anziehung für Menschen auf einem breiten Spektrum von Gender akzeptieren. Noch in diesem fast leeren, ruhigen Sonntag-Morgen-Zug schlug ich online queere sexuelle Identitäten nach. Pansexuell fühlte sich richtig an.
Mich zu outen fällt mir nicht überall einfach. Ich trage für eine Weile Armbänder und Pins in Pridefarben. Manchmal werde ich auf das Armband im pan Farben angesprochen und kann mich so outen, ohne dass ich das Thema selbst ansprechen muss. Auch fi nde ich andere Queers und Allies. Das verbindet. Im Herbst schreibe ich einen Brief an meine Kernfamilie, in dem ich mich oute. Im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen ist mir unangenehm, doch die Reaktionen sind schön und fühlen sich befreiend an.
Während des Aufbaus des lila-Festivals treffe ich viele Queers, die mich akzeptieren und auf wunderbar unterschiedliche Arten queer sind. Endlich eine Gruppe, mit der ich mich identifizieren kann.
Motiviert durch diese Gemeinschaft nehme ich an meiner ersten Milchbüechli Sitzung teil. Den ersten Comic, der im Milchbüechli abgedruckt wird, unterschreibe ich mit Lukas Schenk (er).
Gleichzeitig kann ich mich damit und mit dem mir zugeschriebenen Geschlecht immer weniger identifizieren. Sätze von Fremden, die zu ihren Kindern etwas wie: «Gib das mal dem Mann da.» sagen und dabei auf mich zeigen, fühlen sich seltsam falsch an. Gleichzeitig merke ich, dass ich mir mehr Freiheit wünsche, wie ich mich kleide, mich präsentiere, ausdrücke oder wahrgenommen werde. Könnte ich das nicht einfach auch als Mann? Vielleicht. Doch wenn ich in den Spiegel blicke, ist da keiner.
Als ich mitten im pink glitzernden Kitsch eines Modeschmuck-Ladens stehe, um mich herum Schulmädchen mit weiblich gelesenen Erwachsenen, fühle ich mich, als würde ich nackt, nur in eine Regenbogenfl agge gehüllt, durch die Gestelle gehen. Ich möchte eigentlich nur Ohrstecker für meine neuen Ohrlöcher kaufen, doch ich fühle mich, als wäre mir queer auf die Stirn geschrieben. Natürlich gibt es auch hetero Männer, die Ohrringe tragen. Es gibt auch tausend absolut straighte Gründe für andere Personen, kitschige Ohrstecker zu kaufen. Aber ich fühle mich entlarvt. Schlussendlich kaufe ich dennoch Ohrstecker, und zwar extra die in pseudo Pridefarben.
Das queere Kollektiv Bromelia lädt zum Abendessen in Bern ein. Gleich am Eingang erhalte ich ein Klebeband, um meinen Namen und Pronomen aufzuschreiben. Ich schreibe »Lu» dafür kann ich mich entscheiden, doch welche Pronomen? Ich kann es gerade überhaupt nicht festlegen und schreibe schlussendlich «Lu (er – oder so)«. Eine befreundete Person sitzt an einem Tisch, ich setze mich dazu und fi nde mich plötzlich unter lauter genderqueeren Menschen wieder, viele von ihnen non-binär.
Ziemlich genau ein Jahr nach meinem inneren Outing als pan identifi ziere ich mich als non-binär und passe meinen Namen und Pronomen überall an, wo ich kann. Am einfachsten geht das auf Social Media und unter dem nächsten Milchbüechli Artikel. Im realen Leben ist das etwas aufwändiger. Doch Umfeld für Umfeld verändert sich nach und nach und an immer mehr Orten darf ich ich sein. Bei Friends, bei der Arbeit, in meinem Quadball Team und an immer weiteren Orten, an denen ich mich mit meinem neuen Namen vorstellen kann.
Lu Schenk (keine/en) lebt in Bern, arbeitet in einem Museum und an eigenen Projekten im Illustration-und Comic-Bereich. Für das Milchbüechli schreibt und zeichnet en, und ist Teil des Layout-Teams. En mag Crêpes, Podcasts, Bäume, Spekulatius, Kardamom-Kaffee, wandern, Projekte und Sitzungen, Comics, Wachsjacken, Architektur, schwarze Kugelschreiber, Holzschiffe, Pilze, die Aare, basteln, Platten, alte Dinge und ens Pfl anzen auf dem Fenstersims.
¹ Toxic Masculinty Auf Deutsch auch toxische Männlichkeit. Toxisch bedeutet giftig. Der Begriff beschreibt, wie Männer denken und sich verhalten, um extremen, traditionellen Rollenbildern zu entsprechen. Ein Beispiel ist, keine Gefühle sondern Härte zu zeigen.