Der Türknauf dreht sich etwas widerspenstig und lässt endlich die Eingangstür aufklicken. Ich schlüpfe ins kühle Treppenhaus und lege mich erschöpft in die Stille meines Zimmers. Am nächsten Morgen erwache ich zu früh, weil die Sonne mein Zimmer auf-heizt und mir meine Haare am verschwitzten Nacken kleben. Mit einem leicht drückenden Gefühl auf der Brust rapple ich mich auf, um Kaffee zu machen. Die dampfende Tasse in der Hand, schaue ich aus dem Küchenfenster, während ich die gestrige Partynacht Revue passieren lasse.
Es war ein fantastischer Abend mit witzig-schlauen Gesprächen zwischen lauter, pulsierender Musik. Ich habe Menschen wiedergesehen, die ich lange vermisst hatte und neue Menschen kennen-gelernt. Ich wurde sogar von zwei, wie ich finde, sehr beeindruckenden Menschen angeflirtet. Ich sollte mich grossartig fühlen.
Aber gestern, als sich immer mehr knutschende Menschenknäuel wie von selbst zu bilden schienen, stellte sich bei mir ein leichtes Unwohlsein ein. Ich hätte vielleicht einfach auf den einen Flirt einsteigen sollen, statt fluchtartig allein nach Hause zu gehen. Dieser Satz dreht Dauer-schleifen in meinem Gehirn. Aber eigentlich ist mir klar, dass das mein Problem nicht lösen würde.
Bin ich vielleicht asexuell?
Ich hatte den Gedanken schon einige Male, doch er musste jeweils sehr schnell wieder sehr weit weggeschoben werden. Hier war er nun wieder: Was, wenn ich irgendwie asexuell bin? Lange dachte ich, das sei ausgeschlossen. Es war nämlich nicht so, als würde mich Sexualität rein gar nicht interessieren. Trotzdem schien mir, dass ich nie so richtig mithalten konnte, wenn es um Sex ging. Das Stigma, das Asexualität anhaftet, haftete auch an meinem Blick auf das Thema.
Als ich Menschen kennenlernte, die manchmal fast beiläufig über Asexualität und Aromantik sprachen, wagte ich vorsichtig eine erste Suchanfrage auf meinem Laptop und ein Stein geriet ins Rollen: Ich durchforstete stundenlang das Internet und fand unterschiedlichste Erfahrungsberichte auf Tiktok, las Blogeinträge und lernte neue Begriffe kennen. Hier eine (definitiv nicht abschliessende) Auswahl:
Allonormativität
Allonormativität ist ein Teil von Heteronormativität und beschreibt die Vorstellung, es sei «normal», dass alle Menschen Sex und romantische Beziehungen wollen. Solche Normen schaden der queeren Community. Deswegen stellen sich viele Queers dagegen.
Asexualität
Als asexuell oder ace können sich Menschen bezeichnen, die keine bis wenig sexuelle Anziehung zu anderen Menschen verspüren. Es ist ein Oberbegriff, der vielfältige Erfahrungen zusammenfasst (z.B. Demisexualität, Aceflux, Aegosexualität, Graysexualität und viele mehr). Das Label asexuell sagt noch nichts darüber aus, ob und wie viel Sex ein Mensch hat. Menschen, die (mehr) sexuelle Anziehung verspüren, werden allosexuell genannt. Dazwischen gibt es ein grosses Spektrum mit verschiedenen Ausprägungen. Um das zu verdeutlichen, wird A_sexualität manchmal mit einem Unterstrich geschrieben.
Aromantik
Menschen, die wenig bis keine romantische Anziehung verspüren, können sich als aromantisch oder aro bezeichnen. Das sagt wiederum nichts darüber aus, ob eine aromantische Person in Beziehungen lebt oder nicht, und auch nicht, ob sie eher allo- oder asexuell ist. Auch hier gibt es ein von alloromantisch bis aromantisch reichendes Spektrum, auf dem sich Menschen unterschiedlich verorten können (z.B. demiromantisch, quoiromantisch, arospike und viele mehr). Auch bei A_romantik kann das mit einem Unterstrich signalisiert werden.
Queerplatonische Anziehung
Bezeichnung für eine starke emotionale Anziehung, die nicht unbedingt romantisch oder platonisch ist, sondern oft als etwas dazwischen beschrieben wird.
Split-Attraction Model (auch SAM)
Dieses Modell der Anziehung beschreibt, dass verschiedene Anziehungsformen mehr oder weniger unabhängig voneinander existieren können. Es kann auch nicht nur zwischen sexueller und romantischer, sondern auch sensueller, ästhetischer, platonischer Anziehung usw. unterschieden werden. Für viele Menschen, die sich auf dem aromantischen und/oder asexuellen Spektrum verorten, kann dieses Modell besonders hilfreich sein, um die eigene Anziehung zu beschreiben.
Nach und nach tat sich mir eine neue Welt auf, die so vielfältig ist, dass ich schnell realisierte: Die eine Art asexuell und/oder aromantisch zu sein, gibt es nicht. So unterschiedlich wie Allos Beziehungen, Liebe und Sex erleben, so unterschiedlich leben auch Aros und Aces.
Aro-Ace sprengt Normen auf
Ein Buch, das ich sehr aufschlussreich fand, heisst «Ace: What Asexuality reveals about Desire, Society and the Meaning of Sex». Auf Deutsch etwa: «Ace: Was Asexualität über Begehren, Gesellschaft und die Bedeutung von Sex enthüllt». Darin beschreibt Journalistin und Autorin Angela Chen, wie gesellschaftliche Erwartungen es a_sexuellen Menschen schwer machen können, sich selbst zu verstehen und zu entfalten. Dabei spielt die Überschneidung (Intersektionalität) von verschiedenen Diskriminierungsformen wie Ableismus, Rassismus und Heterosexismus eine grosse Rolle.
Eine deutsche Übersetzung des Buchs habe ich leider bisher nicht gefunden. Generell fand ich eher wenig Material zu A_sexualität. Leider ist das Thema selbst innerhalb der queeren Community oft tabu. Dabei gäbe es viel Spannendes zu lernen, das normsprengendes Potential hat. Obwohl ich mich schon länger als queer verstand, war mir neu, dass sexuelle und romantische Anziehung nicht unbedingt zusammengehören müssen. Und auch, dass sie bei weitem nicht die einzigen möglichen und interessanten Formen der Anziehung sind.
Queere Intimität
Im «Aromantic Manifesto» beschreiben yingchen und yingtong, wie in der Gesellschaft Beziehungen hierarchisch geordnet sind. Romantisch-sexuelle Beziehungen stehen dabei ganz oben. Die Beiden analysieren, wie das Konstrukt der Romantik viele queere Menschen ausschliesst und ihnen den Zugang zu Intimität, Geborgenheit und Gemeinschaft verwehren kann. Sie entwerfen Potentiale einer aromantischen Utopie und rufen dazu auf, diese Ansätze gemeinsam weiter zu entdecken.
Während ich immer noch über die Aro-Ace-Welt staune und mich zurechtzufinden versuche, wünsche ich mir, dass wir mehr über unterschiedliche Anziehungsformen sprechen. Dass wir weniger Annahmen treffen und einander mehr zuhören. Um aus dem aromantischen Manifest zu zitieren: «queerness was never about the convenience of normality» oder auf Deutsch: «bei Queerness ging es nie um den bequemen Vorteil von Normalität».