Sie lernen sich in der Schule kennen, als Jo, die eigentlich Johanna heisst, neu in die Klasse der namenlosen Protagonistin kommt. Sie hat versucht sich umzubringen, dieser Ruf eilt ihr zuvor und lässt die Protagonistin nicht mehr los. Von der ersten Begegnung an ist sie Jos Rausch verfallen.

Die Zeit vor Jo

Eine Leere begleitet die Protagonistin in ihrem Alltag zwischen einsamen Schultagen und einer von gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Beziehung zur alleinstehenden Mutter. Diese hat mit ihren eigenen Monstern zu kämpfen, während ihre Tochter langsam nicht mehr weiss, wohin mit sich. Und dann ist da der Botanische Garten mit diesem einen Gewächshaus, dem Mittelmeerhaus. Es ist ihr Ruheort und Mittelpunkt zugleich. Ein Teil von ihr. Bevor sie Jo kennenlernt, steht ihr Körper stets nur im Kontrast zur Welt um sie herum. Die Umwelt wird an der Berührung mit dem Körper beschrieben. «Es beginnt zu hageln. Die Körner tun weh auf meinen Wangen.» Sichtbar sind nur die Grenzen zwischen dem Innen und Aussen. Im Mittelmeerhaus ist das anders. Sie ist Teil dieses lebenden Organismus. Immer wieder liegt sie da, unter einem Feigenbaum, verbringt Tage und Nächte auf die unreifen Feigen im Frühsommer starrend. Mensch kann gar nicht anders, als an Sylvia Plath zu denken. An die Feigenbaumanalogie aus ihrem einzigen Roman The Bell Jar, die diese Jugendjahre voller Ungewissheiten so treffend einfing. Die Früchte bedeuten für die Protagonistin in Höhenangst, «dass es Dinge gibt, die passieren können ohne Menschen, Dinge die es vorher gegeben hat und die es nachher geben wird.» Bei Plath hingegen ist jede Feige eine Möglichkeit der Zukunft und während mensch da liegt unter dem Feigenbaum und sich nicht entscheiden kann, beginnen die Früchte zu faulen und fallen nacheinander zu Boden, bis die letzte fällt und mensch an der Entscheidung verhungert. Die Protagonistin wartet auch. Doch ihr fehlt der Hunger. Und dann tritt Jo in ihre Welt und zeigt ihr ihr eigenes Mittelmeerhaus: ein illegaler Kellerclub in einem unbewohnten Haus. Jo eröffnet ihr darin die Möglichkeiten der Nacht. Zwischen Zigarettenrauch, Hochprozentigem in klebrigen Mischgetränken und schwitzenden Gestalten, findet sie ihren Platz in der Masse und spürt zum ersten Mal, dass sie Teil von etwas ist. Auf den Kater danach folgt bald das Verlangen nach dem nächsten Kick. Sie hangeln sich von Wachmachern über Runterfahrer bis zu Gedankenerweiterern. Im Rausch mit Jo schafft sie es, nicht mehr zu denken.

Was Worte wiegen

Im Roman werden Worte wie Objekte behandelt, wie physische Hindernisse, die einem schwer in der Magengrube liegen, die mensch im Mund drehen, kauen, herunterschlucken oder ausspucken kann und dann sofort wieder in den Mund zurückstopfen möchte. Worte sind greifbarer, scheinen mehr Raum einzunehmen in der Stille, die Jo und die Protagonistin so oft wie selbstverständlich umgibt. Sie erkennen, dass sie sich verstehen, ohne sprechen zu müssen. Sich so sogar besser verstehen. Sie hören die Gedanken der anderen, als wären sie im eigenen Kopf. Sätze der anderen verhaken sich dort, «wie wenn eine Masche eines Strickpullovers an einem Stacheldraht hängen bleibt und diese endlos langzieht». Auch sonst strotzt der Text vor solchen Vergleichen, die eine Kette an Bildern erzählen und teils ins Surreale übergehen. In ihrer Fantasie liegen sie am Sandstrand und schmecken das Salz auf ihren Lippen oder geniessen Champagner zu Trüffelpasta auf weissem Tischgedeck. Sie erforschen gemeinsam erfundene Welten und schaffen sich dabei eine ganz eigene. Einen Mikrokosmos, in dem sie allen Regeln dieser Welt abschwören und sowieso alles ganz anders ist. Ihre Welten verschmelzen. Jo wird ihr Mittelmeerhaus, der Rausch wird ihr eine neue Mutter und damit drohend auch eine neue Abhängigkeit. Lebensmüdigkeit wird zu Hunger auf mehr. «Ich werde Feuer. Ich brenne».

Mensch ist verleitet, diese gedanklichen Umwege einfach auf das ein oder andere Rauschmittel zurückzuführen, aber gleichzeitig ist da auch diese Stimme einer Teenagerin, eine unverkennbar jugendliche Perspektive, die manche Gedanken zum ersten Mal denkt und Gefühle entdeckt, die sie noch nicht benennen kann. Sie denkt, Verliebtsein ist eine Entscheidung und sucht sich einen leidlichen Jungen aus, der dafür hinhalten muss. Sie spricht mit vielen Ichs in kürzesten Sätzen. Wechselt dabei beklemmend schnell von fundamentalen Ängsten zu Alltagssorgen: «Die Kontrolle zu verlieren, ist das Schlimmste. Auch schlimm, aber viel weniger: die Zähne vergessen zu putzen und es erst in der Schule zu merken». Höhen und Tiefen liegen so nah beieinander, dass es den Lesefluss manchmal bricht.

«Der singende, tanzende Abschaum dieser Welt»

Längst nicht nur die namenlose Hauptfigur erinnert an einen Kultfilm der neunziger Jahre. Auch in Höhenangst tanzen sich die Protagonist*innen in eigene Welten und erzählen somit einen Fightclub der neuen Generation – und gleichzeitig eine weibliche Version davon. Oder zumindest eine nicht-männliche. Denn Weiblichkeit wird nicht als gegeben verstanden. Wenn Jo als «ihre Freundin» bezeichnet wird, korrigiert die Protagonistin: «Einfach Jo». Auch Beschreibungen verzichten oft darauf, Geschlecht zu benennen. Personen werden im Text einfach über ihre Körper beschrieben, über ihre Stimmen oder Uniformen. “Die Stimme fordert mich auf, mich anzuziehen. […] Der Körper der Stimme macht beim Gehen keine Geräusche und riecht nach nichts.” Dennoch ist Geschlecht präsent: Als Regeln und Normen, und in all den Arten, darunter zu leiden. Es wird da benannt, wo die Grenzen des eigenen und die Möglichkeiten des anderen Geschlechts spürbar werden. Während Fightclub eine Flucht aus dem Spätkapitalismus der 90er Jahre erzählte, flüchten die Protagonist*innen in Höhenangst vor den Regeln und Beschränkungen ihrer Zeit. Und letztlich, ebenfalls vor der Vernunft: «in dem sind sich die Lebensmüden und die -hungrigen vielleicht gleich: Die Vernunft ist ihnen lästig.» Die anfangs antriebslose Protagonistin wird durch Jo vom Hunger gepackt, spürt, dass sie endlich Teil von etwas Grösserem wird. Endlich Teil der Welt, die sie bis dahin nur umgab. «Ich weiss, es gibt zwei Arten, die Welt zu sehen: Entweder sie ist, wie sie ist, und du bist davon getrennt. Oder du bist die Welt, bist ein Teil von ihr, sie kommt aus dir und du aus ihr.» Ein Teil der Welt zu sein, ist eine Entscheidung. Sie nicht an sich ranzulassen, auch. Jo zumindest wird ein Teil von ihr bleiben, falls sie es nicht schon immer war.

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