Es waren die 1870er Jahre und zwei Frauen lebten zusammen, sie teilten sich alles und waren unzertrennlich. Geheiratet haben sie nie, stattdessen war ein drolliger schwarzer Kater ihr ständiger Begleiter. Die Sache ist klar, meinen Historiker*innen, sie waren Mitbewohner*innen oder eben Roommates, was könnten sie sonst gewesen sein?

Das Beispiel ist zwar überspitzt und erfunden, doch steckt ein wenig Wahrheit darin. Nämlich das «Übersehen» von queeren Existenzen. Wobei übersehen hier zu nett ist, es ist wohl eher das Projizieren eines gesellschaftlichen Zwanges der Heterosexualität. Das Meme «And they were Roommates» entstand wie so vieles auf Tumblr (für die nach 2007 Geborenen; Tumblr ist eine Internetplattform ähnlich zu Twitter nur mit mehr Chaos und ohne Elon Musk). Der Satz «And they were Roommates» deutete eine romantische Beziehung an, welche von aussen nicht ersichtlich oder nicht dem Kanon, also der allgemein wahrgenommenen Realität, entspricht. Heute wird der Satz meist verwendet um das «Übersehen» queerer Existenzen in der Geschichte zu benennen, wie eben oben im Beispiel.

Das «Übersehen» dieser Existenzen und Beziehungen hat wohl mehrheitlich zwei Ursachen. Einerseits spielt die weitverbreitete und institutionalisierte Homophobie in unserer Gesellschaft wohl eine grosse Rolle, ob wissentlich oder nicht. So wurde Sappho die griechische Poetin zum Beispiel im Nachhinein zur Lehrerin.

Mensch konnte sich ihre Gedichte und besonders die farbigen Beschreibungen ihrer Beziehungen zu Frauen und Mädchen sonst nicht erklären … Diese Auslegung Sapphos ist heute umstritten, zumal die erste Erwähnung Sapphos als Lehrerin erst 600 Jahre nach ihrem Tod entstand. Sapphos Tod war damals also ungefähr so weit entfernt wie das Jahr 1425 von heute. Das tönt nach einem starken Fall von «And they were Roommates». Vielleicht hat die Quelle recht und Sappho war wirklich eine Lehrerin. Doch warum gibt es keine älteren Quellen dazu? Haben genau diese Quellen es nicht zu uns geschafft? Möglich wäre es, aber doch unwahrscheinlich. Es wäre doch viel naheliegender, dass ihre Hingabe zu Frauen wohl doch von romantischer / sexueller Natur war?

Und was, wenn Sappho ein Mann gewesen wäre? Wären wir nicht von Anfang an davon ausgegangen, dass es bei der Hingabe nicht um freundschaftliche Zuneigung geht? Wahrscheinlich schon, die Interpretation von historischen Quellen wird von unseren eigenen Erlebnissen und dadurch geprägten Wahrnehmungen beeinflusst. Und die Werte der Gesellschaft, in welcher wir leben, sind nun mal auch prägend für unsere Wahrnehmung. Es gibt in der Geschichte also zwangsläufig Unschärfen, durch unsere doch sehr menschlichen Voreingenommenheiten und durch die vielen Informationen, welche im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Allerdings wurden zusätzlich in älteren Übersetzungen von Sapphos Gedichten Pronomen so geändert, dass die Handlungen der Geschichten den heterosexuellen Normen zur Zeit der Übersetzung entsprachen. Ihre Gedichte wurden sozusagen zwangsheterosexualisiert. Und dies ist doch mehr als «nur» eine Unschärfe aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen.

Diese falsche Übersetzung der Lyrik ist ein Paradebeispiel für die Einflüsse von Homophobie auf die Auslegung der Geschichte und «And they were roommates» ist auch hier sehr passend. Solche Dinge passierten früher noch oft, als mensch es nicht so ernst mit wissenschaftlichem Arbeiten nahm und mehr dem Motto «Fuck around and find out» (De: Probiers und finds raus, aber mit Fluchen) folgte. Heute versuchen wir, dies zu vermeiden. Zum Glück sind sich Historiker*innen heutzutage doch ziemlich einig, Sappho würde heute unter den queeren Regenschirm fallen. Wo genau? Keine Ahnung! Zu viele Quellen sind verloren gegangen, und sie zu fragen ist ohne Zeitreisen schlicht unmöglich. Und auch wenn wir sie fragen könnten, hätte sie wahrscheinlich keine Ahnung ob sie Bi, Pan oder Lesbisch wäre. Zu sehr hat sich unser Verständnis von Sexualität und Geschlechtsidentität verändert.

Besonders auffällig ist dies bei Transidentitäten. Sie waren vor gerade mal 100 Jahren die ersten Versuche, in deutscher Sprache sogenannte «sexuelle Zwischenstufen» zu benennen. Die daraus entstandene Kategorie der Transvest-it*innen wird heute fast nicht mehr gebraucht und wenn, dann taucht sie als Schimpfwort auf. Sie ist stigmatisiert. Doch vor 100 Jahren war sie revolutionär und Personen, welche wir heute als Crossdresser*innen und Transpersonen bezeichnen würden, freuten sich, endlich einen passenden Begriff zu haben. Während viele von uns sich heute nicht mehr mit veralteten Begriffen wie homophil oder Transvestit*in identifizieren können, so waren diese Bezeichnungen Teile der Identitäten von Personen. Und auch wenn Labels unsere Identität nicht ausmachen, so sind sie doch ein wichtiges Werkzeug, um anderen Personen mitzuteilen, wer mensch ist.

Wenden wir also unsere Labels auf historische Personen an, kann durchaus ein Teil der Identität der Person in der «Übersetzung» verloren gehen. Es ist auch nicht immer sinnvoll, schon vorhandene Labels zu «modernisieren». Wichtig ist nur, dass wir diese Labels erkennen und einordnen können, denn Sichtbarkeit in der Geschichte ist wichtig. Am Ende ist «And they were Roommates» ein Meme, welches die Probleme der Geschichtswissenschaften ziemlich auf den Punkt bringt.

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