Dass ich queer bin, weiss ich schon lange. Ich bin auch schon länger out and proud und in den allermeisten Fällen fällt es mir leicht, darüber zu reden, dass Geschlecht bei der Frage, wen ich liebe, keine Rolle spielt. Doch mit der Frage, ob ich ace bin, habe ich dann doch eine ganze Weile gerungen. Dabei gab es wohl weder für mich noch für mein engeres Umfeld Zweifel, dass ich mich sehr wohl auf dem asexuellen Spektrum befinde. Ich denke, meine Asexualität zu akzeptieren war so viel schwieriger, weil es sich auch viel eher anfühlt, als würde mensch etwas verlieren, ja vielleicht sogar bewusst etwas aufgeben. Und zwar nicht irgendetwas, sondern das Etwas überhaupt, von dem die ganze Gesellschaft besessen zu sein scheint. Ich werde vermutlich nie jemenschen küssen und höchstwahrscheinlich nie mit jemenschem schlafen. Dass ich das auch gar nicht möchte, hat mich bei der Akzeptanz meiner Asexualität nur wenig weitergebracht. Denn ich habe mein Leben lang gelernt, dass ‘das Eine’ der Höhepunkt einer Beziehung schlechthin ist und was für bedeutende Meilensteine solche ‘Erste Male’ sind. Und obwohl ich mein Leben nicht in diesen Meilensteinen messe und dies auch auf keinen Fall möchte, wird es doch die Mehrheit der anderen immer tun. Ace zu sein bedeutet in unserer Kultur auch, von den meisten nicht verstanden zu werden. Und das tut weh. Weil mensch nicht mitgedacht wird und weil sehr viele uns auch gar nicht mitdenken wollen. Angela Chen schreibt in ihrem Buch «ACE» unter anderem darüber, dass emanzipierte Sexualität bedeutet, so viel Sex zu haben, wie mensch möchte, aber dass dies dann irgendwie trotzdem bedeutet, möglichst viel Sex zu haben. Dabei sind wir erst wirklich emanzipiert, wenn niemals Sex zu haben, auch eine Option ist.
Das Label Ace hilft mir, mich daran zu erinnern, dass ich nein sagen darf. Und zwar für den Rest meines Lebens, wenn ich das möchte. Diese Erkenntnis hat mir sehr viel Druck weggenommen, von dem mir nicht einmal bewusst war, dass er auf mir lastete.
Wie so oft, wenn es ums Questioning und Queersein geht, hatte ich auch noch einen anderen Aha-Moment. Den Moment, in dem ich verstanden habe, dass ich zwar erneut nicht in die Box passe, dass es aber ausserhalb dieser sowieso viel schöner ist.
Ich habe eine Freiheit gewonnen, die ich nie mehr hergeben würde: Ich kann abseits aller Erwartungen und Normen herausfi nden, was mir in Sachen Intimität gefällt und was ich möchte. Für mich als Ace ist es nämlich schon von Beginn an vergeblich, mich komplett anpassen zu wollen. Dann kann ich auch gleich das ganze «Sollen» und «Müssen» weglassen und mich darauf konzentrieren, herauszufi nden was für mich persönlich stimmt. Und jetzt mal ganz ehrlich: wie viele von euch, die allo sind, gehen Intimität mit einer solchen Freiheit an? Fragt ihr euch bei jeder Form der körperlichen Zuwendung, ob sie euch gefällt, oder macht ihr es einfach, weil mensch das eben so macht? Küsst ihr gerne oder würdet ihr eine lange Umarmung eigentlich viel mehr geniessen? Mit diesen Fragen möchte ich niemenschen davon abhalten, physische und sexuelle Intimität zu geniessen. Ich würde euch aber gerne die Anregung mitgeben, euch diese Fragen auch dann zu stellen, wenn ihr nicht auf dem ace-Spektrum seid. Denn was für euch persönlich stimmt, könnt ihr nur dann herausfi nden, wenn ihr all diese Dinge nicht als gegeben betrachtet, sondern als Optionen, unter denen ihr die auswählen könnt, die euch gefallen.
Infobox
«Allo»: Allosexuell ist das Gegenstück zum Begriff Asexuell und bezeichnet Menschen, die grundsätzlich sexuelle Anziehung spüren.