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Alle queeren Individuen haben ihre eigene, einzigartige Reise der Selbstfindung. Meist, hält diese Reise ein Leben lang an, da Wachstum, Veränderung, und neue Erfahrungen uns in unserer Identität fortlaufend prägen. Da wir jedoch alle unweigerlich irgendwo anfangen müssen, kann sich das Hinterfragen und Ausprobieren der eigenen Identität anfangs ziemlich überfordernd anfühlen. Zudem kann es in einer heteronormativen Gesellschaft emotional schwer sein, Schritte in Richtung Erforschung des eigenen Innern zu unternehmen. Obwohl solche Dinge mit Zeit und Erfahrung besser werden, ist es auch schön, diese Fortschritte hervorzuheben. In diesem Sinne möchten wir hier einige frühere Erfahrungen beleuchten, die direkt von den Betroffenen selbst mitgeteilt wurden. In anonymen Interviews mit internationalen queeren Jugendlichen haben wir einige Gedanken und Geschichten aus unserer queeren Jugendzeit zusammengetragen.

Dies ist der erste Teil des Interviews, der die Anfänge und Schwierigkeiten unserer Reisen beleuchtet.

1. Frage: Wann und in welcher Situation hast du zum ersten Mal angefangen, deine Identität zu hinterfragen?

„Ich habe meine Identität zum ersten Mal hinterfragt, als ein Mädchen in meine Stufe kam und mich jemensch zum Spass gefragt hat, ob ich sie mochte. Ich war 13. Davor hatte ich mich als straight ally verstanden. Ich fühlte mich zuerst hin- und hergerissen, und weil damals online viel über LGBTQ+ gesprochen wurde, dachte ich, dass mich das vielleicht einfach beeinflusst hatte. Aber all diese Repräsentation in den Medien hat mir tatsächlich dabei geholfen, mich nicht mehr so zu fühlen, als wäre etwas falsch mit mir. So habe ich es dann geschafft, mich als queere Person zu akzeptieren und mir gleichsam meine Gefühle für dieses Mädchen einzugestehen.”

„Ich habe meine Identität zum ersten Mal hinterfragt, als ich in die Schweiz gezogen bin und eine spezielle, obsessive Freundschaft mit einem Mädchen begonnen habe. Als wir dann nicht mehr Freundinnen waren, war ich am Boden zerstört, weil wir im Schlechten auseinander gegangen sind. Daraufhin habe ich mich gefragt, wieso ich so besessen von ihr war und ob ich vielleicht Gefühle für sie hatte. Ich war mir nicht sicher, aber langsam kamen Erinnerrungen zu mir zurück. Wie ich früher solche Dinge wie queere Musikvideos immer und immer wieder angeschaut hatte, und, ich weiss nicht, langsam kamen immer mehr solche Erinnerrungen. Auch jetzt bin ich mir meiner Identität noch nicht sicher, aber ich weiss definitiv, dass ich queer bin. ☝️

“Eigentlich schon in meinen Teenager-Jahren. Ich lag jeweils Nächte wach, weil ich Angst hatte, queer zu sein. Ich liess es mir nicht zu, diese Gefühle weiter zu erforschen. Deshalb realisierte ich erst so richtig in meinen frühen Zwanzigern, dass ich bisexual bin.”

2. Frage: Wie war deine Reise für dich, deine queere Identität zu erforschen?

„Also, nachdem ich in Betracht zog, dass ich vielleicht bisexuell sein könnte, habe ich es nie wirklich ausgelebt. Die Jungs in meiner Klasse waren sowieso nicht wirklich mein Type, also wurde daraus nichts. Später hatte ich dann ein Paar Situationen, wo ich mich zu anderen Männern hingezogen fühlte. Danach habe ich mich stärker damit auseinandergesetzt, meine Sexualität zu erforschen und fühlte mich schliesslich wohl genug, mich nicht mehr als bicurious sondern völlig als bisexuell zu identifizieren.“

„Folter. Die anderen Schüler*innen in meinem Internat waren sehr homophob, also wurde ich ständig beschimpft und Leute haben meine erste Beziehung mit einem Mädchen auf ekelhafte Weise fetischisiert. Es war sehr schwer für mich, zu akzeptieren was ich damals fühlte und dass ich vielleicht nicht ‚normal‘ war, besonders aufgrund meines Umfelds. Ebenfalls, musste ich mich zweimal outen, weil alle mich gemobbt hatten und ich wieder in den Closet zurück musste. Ich habe mittlerweile gelernt, die Meinung anderer über mich nicht zu beachten. Ich wollte ich selbst sein und meine sexuelle Identität frei und offen ausdrücken können, also habe ich mich ein zweites Mal geoutet.“

„Bis jetzt, war es kein wirklicher Prozess. In der Zeit, in der ich realisierte, dass ich queer bin, landete ich in einer ungesunden Beziehung, in der ich zwei Jahre lang gefangen war. Aber zu Beginn, bevor die Beziehung eine schlechte Wendung nahm, war es sehr aufregend. Es fühlte sich sehr anders an und auch natürlich. Es fühlte sich einfach richtig an. Und das war davor nie so, deshalb war es sehr schön für mich, meine queere Identität zu erforschen. Trotzdem würde ich es nicht als ‚Reise‘ bezeichnen, weil ich, aufgrund dieser missbräuchlichen Beziehung, kaum Freiraum hatte während dieser Zeit. Ich fühlte mich unterdrückt und nicht in der Lage dazu, mich so auszuprobieren und meine Identität zu entdecken, wie ich es gerne getan hätte. Ich hatte sozusagen die Rolle eines*r unbezahlten Psychologen*in in dieser Beziehung. Ich fühlte mich verantwortlich, sie in ihrer Identität zu unterstützen, anstatt, dass ich mich auf meine eigene fokussieren konnte.”

“Viele Ups and Downs. Sehr verwirrend. Aber umso schöner, endlich an der eigenen Anerkennung angekommen zu sein.”

3. Frage: Was war die grösste Herausforderung bei der Erkundung deiner Identität?

„Eher, mir selbst zu beweisen, dass ich wirklich queer war. Anfangs hatte ich nur heterosexuelle Crushes erlebt, aber durch mehr Selbsterforschung konnte ich Dinge erleben, die mir halfen, mein Vertrauen in meine sexuelle Identität zu stärken.“

„Comphet*. Ich habe das Gefühl, dass ich darauf konditioniert wurde, diese bestimmte Art von Beziehungen zu führen. Es ist schwer, aus etwas auszubrechen, an das mensch so sehr gewöhnt ist, und vollständig zu verstehen, was mensch mag und was nicht, im Gegensatz zu dem, was die Gesellschaft einem irgendwie aufgezwungen hat.“

*Zwangsheterosexualität, auf Englisch abgekürzt auch Comphet: die systematische Verstärkung und Beeinflussung von heteronormativen Ansichten auf Individuen in der Gesellschaft.

„Wahrscheinlich war es, eine Art Vorbild zu finden. Denn so wie es diverse Repräsentationen in den Medien gibt, so gibt es auch viele Stereotypen. Wenn ich also nicht wusste, wie ich mich gegenüber anderen queeren Menschen verhalten sollte, oder wenn ich generell ein wenig verloren war, war es schwierig, einen Ort zu finden, an den ich gehen konnte. Oder eine Person, mit der ich reden konnte, denn es war schwierig, jemenschen zu finden, der*die wirklich verstand, was ich durchmachte.“

Wenn auch Anfänge mit besonderen Herausforderungen verbunden sind, sind sie doch auch ein wichtiger Teil unseres Selbstfindungswegs und bringen Erfahrungen hervor, die uns bis zum heutigen Tag prägen. Was die manchmal schwere Last dieser Geschichten erleichtert, ist der Trost, den es uns gibt, unsere Geschichten mit unserem queeren Umfeld teilen zu können. Ein wertvoller Aspekt von Verletzlichkeit ist der Trost zu wissen, dass wir mit nicht allein sind. So werden wir im nächsten Teil des Interviews unsere Geschichten reflektieren und einige Schlüsselmomente daraus verarbeiten.

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