Brüste und Bartwuchs, Periode und Prostata – solche Begriffe werden gemeinhin als Unterscheidungsmerkmale zwischen Männern und Frauen gebraucht. Ausgeklammert wird dabei, dass neben dem sozialen auch das biologische Geschlecht nicht zweipolig ist, sondern vielmehr einem Spektrum gleicht. Nach Schätzungen der Organisation InterAction Schweiz und der UNO sowie verschiedenen Studien weisen aktuell rund ein bis zwei Prozent der Neugeborenen in der Schweiz eine Variation der Geschlechtsmerkmale auf. Sie können nach biologischen Kriterien also nicht klar den Kategorien «männlich» und «weiblich» zugeordnet werden. In der Schweiz entspräche dies etwa der Bevölkerung von Bern oder Lausanne.
Sozialer Druck führt zu medizinischen Massnahmen
Obwohl es viele intergeschlechtliche Menschen gibt, ist Intergeschlechtlichkeit nach wie vor sehr stark stigmatisiert. Dies zeigt sich auch sprachlich: Statt neutrale Begriffe wie «Variation der Geschlechtsmerkmale» zu benutzen, werden teils immer noch pathologisierende Begriffe wie “Störungen der Geschlechtsentwicklung” verwendet. Der Druck, der auf intergeschlechtlichen Kindern und ihren Angehörigen lastet, ist entsprechend gross. Manche Ärzt*innen raten deshalb auch ohne medizinische Indikation noch immer zu geschlechtsverändernden Massnahmen direkt nach der Geburt. So soll das Kind äusserlich einem klaren Geschlecht zugeordnet werden und später auf weniger gesellschaftliche Probleme stossen.
Diese Erfahrung hat auch Maria A. aus Zürich gemacht. Ihr Kind besitzt zwei X-Chromosomen, weist aber männliche äussere Geschlechtsmerkmale wie einen Mikropenis auf. Dies ist eine von vielen Geschlechtsvariationen, die unter dem Begriff Intergeschlechtlichkeit zusammengefasst werden. Maria A. wurde von ärztlicher Seite empfohlen, ihrem Kind so schnell wie möglich entsprechende Hormone zu verabreichen, damit es sich körperlich rein männlich entwickle. Dass bei einem intergeschlechtlichen Neugeborenen zu geschlechtsverändernden Massnahmen geraten wird, ist kein Einzelfall. Solche Eingriffe sind medizinisch aber oft gar nicht notwendig und können zu starken Traumata bei den Betroffenen führen.
Eine vergeschlechtlichte Gesellschaft
Laut Medizinhistorikerin Dr. Mirjam Janett geht die Praxis, intergeschlechtliche Personen bereits im Frühkindesalter medizinisch zu behandeln und sie einem klaren biologischen Geschlecht zuzuordnen, auf die 1940er- und 50er-Jahre zurück. Ab den 1940er Jahren entwickelte mensch gezielt medizinische Verfahren, um damals noch als “intersexuell” bezeichnete Menschen medikamentös und chirurgisch zu behandeln. Wie Janett feststellt, wurden diese medizinischen Eingriffe aber meist rein sozial begründet. Nur in wenigen Fällen, etwa beim Adrenogenitalen Syndrom mit Salzverlust, bestehe tatsächlich eine akute Gefahr für das Kind. Auch hier, so Janett, sei aber nur der Salzverlust lebensgefährlich und nicht die eigentliche Intergeschlechtlichkeit. Es sei weniger die medizinische Notwendigkeit gewesen, die zu den Operationen führte, als der gesellschaftliche Druck ins Zweigeschlechtersystem zu passen.
Dieser sei auch heute noch immens, meint Maria A.: «Ich habe ein Jahr gebraucht, um zu erkennen, dass mein Kind biologisch nicht rein weiblich oder männlich werden muss, sondern beides gleichzeitig sein darf.” Damit bricht sie mit der vorherrschenden Geschlechternorm: Die Frage nach dem eindeutigen Geschlecht ist in unserer Gesellschaft fast immer zentral. Menschen, deren biologisches Geschlecht nicht klar identifizierbar ist, stellen deshalb automatisch die Essenz unserer gesellschaftlichen Strukturen infrage. Das bereitet manchen Unbehagen. Es entsteht deshalb oft der Drang, intergeschlechtlichen Menschen ein „wahres“ Geschlecht zuzuweisen und so der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Problematik auszuweichen.
Die Auffassung eines „wahren“ Geschlechts intergeschlechtlicher Menschen klinge zwar sehr traditionell, sei aber ein Produkt der Moderne, erklärt Dr. Mirjam Janett. Intergeschlechtliche Menschen seien auch schon vorher sozialem Druck ausgesetzt gewesen, aber es wurde akzeptiert, dass sie biologisch weder männlich noch weiblich sind. „Es war nichts, wofür man eine medizinische Lösung gebraucht hat“, führt Janett aus. Ab 1800 sei der Rechtsstaat zunehmend an das biologische Geschlecht geknüpft worden, bis sich allmählich das ganze System auf die beiden Geschlechterkategorien „männlich“ und „weiblich“ stützte. Bis heute halte dieses Ordnungsprinzip an und bestimme die meisten gesellschaftlichen Normen. Wenn jemensch körperlich sowohl weibliche als auch männliche Charakteristika aufweist, stellt sich damit unweigerlich die Frage, wer sich anpassen sollte: Die Person, die nicht ins System passt oder das System, das dem Individuum nicht gerecht wird.
Selbstbestimmung als oberstes Gebot
Dr. Mirjam Janett weist zudem darauf hin, dass die Debatte rund um den medizinischen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit auch mit sozialen Klassen zusammenhänge. Je nach Bildungsgrad, sozialem Umfeld und Herkunft der Eltern habe das intergeschlechtliche Kind mehr oder weniger Chancen auf einen selbstbestimmten Umgang mit seiner geschlechtlichen Identität. Dies könne zu starken Ungleichheiten in den Behandlungsmassnahmen führen. «Da braucht es eine gesetzliche Grundlage, die Kinder schützt, die aufgrund ihres Umfelds vulnerabler sind als andere», erklärt sie. Janett spricht sich deshalb bei Kleinkindern für ein gänzliches Verbot von irreversiblen geschlechtsverändernden Eingriffen ohne medizinische Indikation aus.
Auch für Maria A. komme nicht mehr infrage, ihrem Kind geschlechtsverändernde Hormone verschreiben zu lassen. Stattdessen möchte sie warten, bis ihr Kind alt genug ist, um sich selbst mit seiner geschlechtlichen Identität auseinanderzusetzen. Bis dahin besuche sie Infoanlässe und leiste Aufklärungsarbeit in ihrem Umfeld. Sie erhoffe sich, dass sich die Gesellschaft in den nächsten Jahren so verändert, dass es bald keinen sozialen Grund mehr gibt, Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern vorzunehmen – damit ihr intergeschlechtliches Baby aufwachsen darf, wie jedes andere gesunde Kind.