ALS ICH AM EINDRÜCKLICHEN EINGANGSTOR DES FRIEDHOFS SIHLFELD ANKOMME, IST ES BEREITS DUNKEL. ES NIESELT UND HINTER DEM SCHMIEDEEISERNEN ZAUN SCHEINT EINE ANDERE WELT ZU LIEGEN. EINE WELT, IN DER SICH KEINE AUTOKOLONNEN VOR AMPELN STAUEN, KEINE BUSSE, TRAMS UND ZÜGE DURCH DIE ZÜRCHER NACHT DONNERN. KEIN HIPSTER-NEON LOCKT, WIE AN DER HARDBRÜCKE UND DAS AUFGEREGTE GEWUSEL DER LANGSTRASSE WIRKT WEIT WEG. PLÖTZLICH SPÜRE ICH DEN REGENNASSEN KIES UNTER MEINEN SOHLEN. DIE DICHTEN THUJABÄUME HÜLLEN MICH IN IHRE GEHEIMNISVOLLE STILLE. UM DIESE ZEIT IST ES SEHR DUNKEL HIER UND WÄHREND MEINES GANZEN BESUCHS WIRD MIR AUCH NIEMENSCH BEGEGNEN.
VEREINZELT TAUCHEN AM WEGRAND ALTE GRABSTEINE AUF, AUF EINIGEN LIEGT NOCH ETWAS SCHNEE. HIN UND WIEDER ERSCHEINEN AUS STEIN GEHAUENE STATUEN IM LICHT MEINES HANDYS. NORMALERWEISE WERDEN GRÄBER FÜR 20 JAHRE VERMIETET, LAS ICH AUF DER WEBSEITE DER STADT. AUCH IM TOD SOLL HIER ORDNUNG HERRSCHEN. ES GIBT JEDOCH AUCH VIEL ÄLTERE GRÄBER. FRIEDHÖFE DIENEN AUCH ALS ARCHIV. PERSONEN, DIE ALS WICHTIG ERACHTET WERDEN, ERHALTEN HIER EINEN EHRENPLATZ. DER FRIEDHOF SIHLFELD IST JEDOCH, WIE VIELE ANDERE ARCHIVE AUCH, VON EINER BINÄR-HETER-ONORMATIVEN SICHT GEPRÄGT. WÄHREND HETERO-EHEN UND BLUTSVERWANDTSCHAFT AUCH IN DEN GRAB-INSCHRIFTEN ODER FAMILIEN -GRÄBERN VEREWIGT WURDEN, SIND QUEERS UND IHRE BEZIEHUNGSMENSCHEN OFT KAUM SICHTBAR. JE NACH RELIGIÖSEN ODER RECHTLICHEN VORSTELLUNGEN WURDE ES QUEEREN MENSCHEN SOGAR VERBOTEN, AUF EINEM FRIEDHOF BEGRABEN ZU WERDEN.
VERWIRRT BLICKE ICH AUF MEIN HANDY. EIGENTLICH BIN ICH IN RICHTUNG “D” UNTERWEGS, DOCH DIE KARTE DER FRIEDHOFSVERWALTUNG WEIST NUR GROB DIE RICHTUNG. ANHALTSPUNKTE FEHLEN MIR, STATTDESSEN SIND NUR ORTE WIE “PLATZ DER ERINNERUNG” ODER “PLATZ DES TROSTES” VERZEICHNET. ICH LAUFE IM KREIS.
EIN TOR FÜHRT MICH ÜBER EINE VERSCHLAFENE STRASSE, DIE DEN FRIEDHOF IN ZWEI TEILE TRENNT, SCHLIESSLICH ZUM GESUCHTEN ABSCHNITT «D». DOCH DIE ONLINE-KARTE MIT DEN EINZELNEN GRABNUMMERN BLEIBT WEISS, DER LADEBALKEN DREHT SICH ENDLOS UND ICH BLEIBE IM DUNKELN STEHEN. DANN FÄLLTS MIR EIN. ICH SUCHE NACH DEM NEWSARTIKEL-FOTO. DARAUF STEHT EINE FRAU IRGENDWO IM FRIEDHOF SIHLFELD, IM HINTERGRUND EINE FRÜHLINGSGRÜNE WIESE, ROT-WEISSE ABSPERRBÄNDER, DAHINTER EINE FRIEDHOFSMAUER, HINTER DER EINE HÄUSERREIHE ZU SEHEN IST. ICH FOLGE ALSO DER AUSSENMAUER UND STOLPERE VORWÄRTS.
DIE FRAU HEISST BARBARA BOSSHARD. BEIM KAFFEETRINKEN AM EINGANG ZUM FRIEDHOF SIHLFELD KAM IHR EINE IDEE, DIE SIE NICHT MEHR LOSLIESS. 15 JAHRE ZUVOR VERSTARB IHRE LANGJÄHRIGE PARTNERIN JUDITH UND WURDE IN EINEM GEMEINSCHAFTSGRAB BEIGESETZT. DIE ANONYMITÄT DES FRIEDHOFS ERSCHWERTE DAS ABSCHIEDNEHMEN FÜR BARBARA BOSSHARD. WAS WÄRE ABER, WENN ES EINE MÖGLICHKEIT GÄBE, EINEN QUEEREN ORT DER TRAUER ZU SCHAFFEN? EINEN GEDENKORT, AN DEM SICH DIE HINTERBLIEBENEN BEGEGNEN UND SICH GEGENSEITIG TROST SPENDEN KÖNNTEN.
DA IST NOCH EIN HINWEIS AUF DEM FOTO, DER MIR ERST JETZT AUFFÄLLT. LINKS RAGEN DIE ZWEIGE EINES MARKANTEN BAUMES INS BILD, VIELLEICHT EINE TRAUERWEIDE? ICH GEHE WEITER. REGENTROPFEN FRESSEN SICH IN MEIN NOTIZBUCH. SCHLIESSLICH GIBT EINE BUCHS-HECKE DEN BLICK FREI AUF EINE WIESE. HIER MUSS ES SEIN.
ALS PRÄSIDENTIN VON QUEERALTERN STARTET SIE DAS PROJEKT “REGENBOGEN-RUHE”. ES HANDELT SICH UM DAS ERSTE PROJEKT DIESER ART IN DER SCHWEIZ. SIE GEWINNT SCHNELL WEITERE MITSTREITER_INNEN VON DEN QUEEREN ORGANISATIONEN LOS, PINK CROSS UND HAZ SOWIE UNTERSTÜTZUNG VOM FRIEDHOF- UND BESTATTUNGSAMT DER STADT UND DER CHRISTKATHOLISCHEN KIRCHGEMEINDE ZÜRICH. IM JAHR 2023 WERDEN DIE ERSTEN BEIDEN GRABPLATZABSCHNITTE HERGERICHTET, BEPFLANZT UND IM HERBST EINGEWEIHT. IN DER SCHWEIZ IST ES NICHT ERLAUBT, GRABFELDER FÜR SPEZIFISCHE GRUPPEN ZU ERÖFFNEN. DESHALB WIRD DIE GRABSTÄTTE OFFIZIELL ALS “THEMEN MIETGRAB REGENBOGEN” BEZEICHNET. AUF STADTZÜRCHER FRIEDHÖFEN GIBT ES BEREITS WEITERE THEMENGRÄBER MIT ANDEREN SCHWERPUNKTEN. DAS URNEN-GRABFELD DER REGENBOGENRUHE STEHT ALLEN MENSCHEN OFFEN, NICHT NUR QUEERS. UM DIE GESCHICHTEN DER COMMUNITY UND DER HIER BESTATTETEN SICHTBAR ZU MACHEN, IST ZUSÄTZLICH EINE DIGITALE PLATTFORM GEPLANT SOWIE EIN DENKMAL FÜR AN AIDS VERSTORBENE MENSCHEN.
ALS ICH ENDLICH VOR DEM GRABFELD STEHE, WEHEN KEINE PRIDEFLAGGEN IM WIND. DAS GRABFELD BESTEHT AUS ZWEI FLÄCHEN, DIE MIT STRÄUCHERN UND BLUMEN BEPFLANZT SIND. VIER HOLZ-STELEN RAGEN AUS DEN PFLANZEN UND TRAGEN EINGRAVIERTE NAMEN UND LEBENSDATEN. EIN WINDRAD UND EIN KLEINER, BUNTER ELEFANT WEISEN BISHER ALS EINZIGES DARAUF HIN, WELCHE GESCHICHTEN DIE MENSCHEN VEREINT, DIE HIER BEGRABEN SIND. DENNOCH FÜHLT ES SICH FÜR MICH BESONDERS AN, HIER ZU STEHEN. OBWOHL ICH KEINE PERSON KENNE, DER HIER GEDACHT WIRD, SPÜRE ICH EINE VERBINDUNG. DIE GRÄBER UNTER DER TRAUERBUCHE SIND EIN ORT, UM SICH AN ALLE ZU ERINNERN, DIE IN UNSERER COMMUNITY VORANGEGANGEN SIND. DIEJENIGEN, DIE FÜR UNSERE RECHTE UND SICHTBARKEIT EINGETRETEN SIND UND DAS FUNDAMENT GELEGT HABEN, AUF DEM WIR HEUTE WEITER AUFBAUEN.
IM FRÜHLING WERDEN DIE PFLANZEN AUF DEN GRÄBERN WIEDER BLÜHEN – IN ALLEN FARBEN DES REGENBOGENS.
Queere Menschen, die bereits zuvor auf dem Friedhof Sihlfeld begraben wurden.
Karlheinz Weinberger (1921-2006) war ein Fotograf, der im internationalen Schwulenmagazin ‘Der Kreis’ Bilder veröffentlichte. Für das Magazin fotografiert er Männer, oft Arbeiter. Seine empathischen und feinfühligen Porträts zeigen eine homoerotische Perspektive, oft mit einer Portion Witz. Daneben interessiert er sich für Menschen am Rande der Gesellschaft und dokumentiert etwa «Halbstarke», jugendliche Rocker_innen in den 1950ern, sowie andere Aussenseiter_ innen, Tätowierte und Motorradgangs. Sportanlässe hält er in Foto-Reportagen für Zeitungen und Zeitschriften fest. Im Jahr 1999 fotografiert er zum ersten Mal am CSD in Zürich. Ein erstes Buch mit seinen Bildern erschien 2000, seither waren sie Teil zahlreicher, auch internationaler Ausstellungen.
Emilie Lieberherr (1924-2011) absolvierte als erstes Mädchen im Kanton Uri die Matura und studierte als erste Frau aus dem Kanton an einer Universität. Sie kämpfte für Konsument_ innen Schutz und das Frauenstimmrecht, wo sie dem Aktionskomitee “Marsch nach Bern” vorstand. Von 1970 bis zu ihrem Rücktritt war sie 24 Jahre lang Stadträtin der Stadt Zürich. Die SP-Politikerin hat die Drogenpolitik mitgestaltet und zum Beispiel den Aufbau der Heroinabgabe in Zürich vorangetrieben. Sie zerstritt sich mit ihrer Partei und musste sich mit den Jugendunruhen der 80er Jahre ausein-andersetzen. Von 1978 bis 1983 war sie auch Ständerätin im Bundeshaus. Während ihrer Zeit in der Politik und darüber hinaus lebte sie mit ihrer Partnerin Minnie Rutishauser und mehreren Katzen in einem alten Bauernhaus. Beide sind heute auf dem Friedhof Sihlfeld begraben. Im Jahr 2020 wurde ein Platz im Zürcher Kreis 4 nach ihr benannt.
Hugo Loetscher (1929-2009) liegt direkt neben Emelie Lieberherr und Minnie Rutishauser begraben. Schon während seines Studiums der Soziologie und Literatur-wissenschaft identifizierte er sich als bisexuell und schrieb auch offen in seinen Büchern darüber. Er verfasste Theaterstücke, Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch Reisere-portagen, Gedichte und Essays. Bekannt war er für seinen ironischen Blick, insbesondere auf die Schweizer Identität. Seit den 1970er Jahren thematisierte er in vielen seiner Arbeiten Themen wie Postkolonialismus, Eurozentrismus und Diversität.
Bonus-Material – Weiterführende Links
Dokfilm zu Emilie Lieberherr SRF, 2011
SRF Beitrag Marsch nach Bern, 1969