Wenn wir in Büchern oder in den Medien Berichte von den Leben queerer Personen hören oder lesen, sind es meistens Berichte von und über Erwachsene. Selten hört mensch von den Erfahrungen queerer Jugendlicher und wenn doch, ist es meist von prominenten, wie zum Beispiel Musiker*innen oder Schauspiel-er*innen. Es sind Personen, die fest im Leben stehen, hochprivilegiert sind und eine grosse Reichweite haben. Was ist aber mit all den queeren Kindern und Jugendlichen, die wir zwar nicht kennen, die uns aber alltäglich über den Weg laufen, etwa auf dem Weg zur Schule oder beim Einkaufen im Supermarkt?
Genau diese Frage hat sich die freie Journalistin Christina Caprez auch gestellt. In ihrem neusten Buch «Queer Kids» stellt sie 15 Schweizer Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 20 Jahren vor, die (wie der Titel schon verrät) alle auf die eine oder andere Art der queeren Community angehören. Gefunden hat sie diese Kids über frühere Projekte, Social Media, durch Bekannte oder auch einfach durch direktes Ansprechen auf offener Strasse. In ihren Porträts berichten die Kids über ihre Queerness und wie diese sie prägt und im Alltag begleitet. Sie erzählen über den Selbstfindungsprozess, das Coming Out bei Freund*innen, in der Familie oder in der Schule und das Einleben in die gefundene Identität.
Die Porträts sind wild gemischt und kommen von Personen unterschiedlichster Lebensgeschichten: egal welche soziale Schicht, welcher religiöse oder kulturelle Hintergrund, ob Sek oder Gymi, ob Dorf oder Stadt, ob out oder nicht, ob lesbisch, schwul, bi, aro/ace, trans, non-binär, dazwischen oder ganz was anderes. Sie alle erhalten eine Stimme. Die Kids sind offen, herzlich, witzig und mutig, erzählen von schönen Momenten, wie die überraschende Offenheit der Eltern, das Finden neuer Freund*innen und erste Begegnungen mit der Liebe. «Mein erstes Queertreffen war ein schöner Moment», erzählt Lou, 16, «Endlich Menschen, die mich verstehen!».
Neben den Guten kommen aber auch immer die weniger schönen Erfahrungen. Leider gibt es in den Geschichten immer Vorfälle, in denen gewisse Personen aus dem Umfeld mit der Identität der Kids nicht einverstanden sind oder nicht damit umgehen können. Oft erzählen sie von Mobbing und Intoleranz, von blöden Sprüchen auf dem Pausenhof oder auf den Strassen, von Enttäuschungen und vom Gefühl der Hilflosigkeit. «Die Oberstufe war der absolute Albtraum», sagt Corsin, 17. Er musste sich von seinen Mitschülern oft homophobe Beleidigungen anhören. Freunde und Familie wissen in solchen Situationen oft nicht, wie sie das Kind unterstützen oder vor Ausgrenzung schützen können. Das ist für viele eine sehr schmerzhafte Erfahrung und hinterlässt bei einigen tiefe Wunden, die lange nicht verheilen.
Für das Buch wurden neben den Kids auch noch Fachpersonen interviewt, die zu diversen Themen ausführlichere Erklärungen liefern. Eines dieser Themen, das sich durch viele der Geschichten zieht, ist die mangelnde Aufklärung und fehlende Unterstützung durch die Schulen. Yaro, 20, meint dazu: «Wenn queere Jugendliche in der Schule einen Ort hätten, an dem mensch ihnen zuhört, wäre das eine grosse Hilfe». Oft sehen sich die Kids gezwungen, selbst einen solchen Ort einzurichten und sich ihren Mitmenschen zu erklären. Ad J. Ott, dozierende Person am Institut für Heilpädagogik an der PH in Bern, findet dies sei eindeutig Aufgabe der Lehrpersonen und solle auch dementsprechend klar in den Unterricht aufgenommen werden. In einem anderen Kapitel erzählt die Sozialarbeiterin Lydia Staniszewski, dass sie in einem Jugendtreff gearbeitet hat, den sie aktiv zu einem Safe Space für queere Kids machen wollte und erklärt, wie wir Queerness mit unseren Worten und Handlungen in der Gesellschaft normalisieren können. Dagmar Pauli, Kinder- und Jugendpsychiaterin und Spezialistin für Geschlechtsidentität, klärt in ihrem Interview über Transgeschlechtlichkeit auf. Sie berichtet über Erfahrungen aus ihrer Sprechstunde und erklärt, welche Rechte Transkids in Bezug auf die medizinische Transition haben.
Beim Lesen des Buches war ich immer wieder erstaunt darüber, wie gut Christina Caprez die Stimmen der Kids zur Geltung bringt. Oft hatte ich das Gefühl, dass die Kids mir direkt gegenübersassen, ich konnte mich leicht in ihre Lage hineinversetzen und sie gut verstehen. Die Interviews mit den Fachpersonen runden die Gespräche mit den Jugendlichen ab und beantworten viele offene Fragen. Sie zeigen auf, wie wichtig es ist, dass Queerness im Alltag sichtbar und zugänglich ist und dass die Verantwortung dafür bei den Erzieher*innen liegt. Ich empfehle dieses Buch deshalb sehr an Lehrpersonen, die das Thema gerne in der Schule besprechen würden, aber nicht sicher sind, wie sie das tun sollten. Auch für das Umfeld von queeren Kids enthält das Buch wertvolle Erfahrungen und kann helfen, die Lage der Kinder zu verstehen und besser damit umzugehen.
Das Buch «Queer Kids» ist 2024 beim Limmat Verlag erschienen und in vielen Buchhandlungen erhältlich.