Viele aus der queeren Community erleben regelmässig Grenzüberschreitungen von aussen. Seien das unangebrachte Witze, queerfeindliche Äusserungen oder gar tätliche Angriffe. Es gibt unterschiedliche Selbstverteidigungskurse für queere Menschen, in denen Werkzeuge mit auf den Weg gegeben werden, damit wir in grenzüberschreitenden Situationen reagieren können, um uns selbst und unser Umfeld zu schützen.

Ich stehe also an einem Samstagmorgen um 10 Uhr in meiner Trainerhose in einer Turnhalle bereit, um am zweitägigen Kurs der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) teilzunehmen. Neben mir sind noch 20 andere Teilnehmer_innen und die beiden Kursleiterinnen Nathalie (be ready GmbH) und Olivia (LOS) vor Ort. Ich klebe mir mein Namensschildchen mit meinem Pronomen auf mein Shirt und schon lernen wir uns in einer ersten Begrüssungsrunde etwas kennen. Ich fand es toll, den Kurs mit so vielen verschiedenen Menschen zu verbringen. Von jung bis alt, sportlich aktiv oder nicht, sowie verschiedenen Erfahrungen in Selbstverteidigung. Der Kurs war an FLINTA Menschen gerichtet und wurde von FLINTA Personen besucht, wobei cis Frauen den Grossteil ausmachten.

In einer ersten Übung lernen wir «Stopp!» zu sagen. In Zweierpaaren gehen wir aufeinander zu, wobei mensch dann «Stopp» sagen soll, sobald es unangenehm wird. Auf den ersten Blick wirkt diese Übung vielleicht etwas trivial. Doch während und nach diesem Wochenende habe ich für mich entdeckt, wie unglaublich wichtig es ist, «Stopp!» sagen zu können. Das ist manchmal gar nicht so leicht, und deshalb ist es gut, es praktisch zu üben. Der erste Schritt bei der Selbstverteidigung ist es, unsere Grenzen zu signalisieren. Denn es ist immer okay und sogar wichtig, für die eigenen Grenzen einzustehen. Deeskalation und verbale Kommunikation sind genauso wichtig in Selbstschutz wie körperliche Selbstverteidigung.

Doch was sind Grenzen genau? In einem Input zu verbaler Kommunikation diskutieren wir diese und noch viele andere Fragen. Grenzen sind für jeden Menschen individuell. Mit wem oder was fühlst du dich wohl? Deine Grenzen liegen möglicherweise woanders als meine. Und selbst meine eigenen Grenzen können morgen anders aussehen als heute. Wichtig ist, dass das sein darf. Vielleicht überschreitet heute etwas deine Grenze, was an einem anderen Tag okay oder sogar gewünscht ist. Grenzen sind nun mal beweglich und das müssen Menschen im Umgang miteinander respektieren.

Wie kannst du deine Grenzen sichtbar machen? Zum Beispiel mit dem sogenannten dreiteiligen Statement: 1. Verhalten benennen, 2. Sagen wie du dich fühlst, 3. Gewünschtes Ergebnis benennen. Das könnte in etwa so aussehen: «Wenn du mich so berührst, fühle ich mich nicht respektiert. Ich möchte, dass du meinen persönlichen Raum zukünftig respektierst.» Oder aber, wenn dich zum Beispiel jemensch in der Öffentlichkeit belästigen sollte, einfach mal laut rufen: «Stopp, gehen Sie weg!» Vor allem für marginalisierte Menschen ist es immer wieder schwierig solche Grenzen zu setzten. Uns wird eingetrichtert, dass wir uns «höflich» verhalten und anpassen sollen oder dass es peinlich und übertrieben sei, wenn wir tatsächlich für uns einstehen.

Im Kurs der LOS haben wir auch über die rechtlichen Grundlagen bezüglich Notwehr gesprochen. Rechtlich gesehen, darfst du dich ab dem Moment wehren, wenn du Angst hast und dich unsicher fühlst. Stopp zu rufen oder auch einfach mal jemenschen wegschubsen, wenn eine Person dir zu nah kommt, ist weder übertrieben, noch verboten! Die eigenen Rechte zu kennen kann sehr ermächtigend sein.

Es kann vorkommen, dass ein Gegenüber trotz Deeskalation nicht fernzuhalten ist. Für solche Fälle zeigt uns Nathalie Strategien und Abwehrtechniken, wie wir uns aus einem körperlichen Übergriff befreien können. Wir lernen verschiedene Kicks und lassen unserer Energie freien Lauf, während wir auf Pratzen (Schlagpolster, um Tritte und Schläge zu trainieren) einschlagen.

Persönlich habe ich vor allem etwas aus diesem Wochenende mitgenommen:

Aktivismus ist nicht gleich Selbstverteidigung. Ich tendiere dazu Menschen zu konfrontieren. Wenn jemensch in meinem Umfeld queerfeindliche Kommentare äussert, dann stehe ich immer öfters für mich und die Community ein. Aus der Sicht der Selbstverteidigung, ist das nicht immer von Vorteil. Wenn du die Energie und Motivation dazu hast, dann ist es wichtig und ermächtigend, wenn du dich für queere Menschen stark machst. Doch verlasse lieber einmal mehr eine Situation, wenn du dich nicht sicher fühlst. Denn für nachhaltigen Aktivismus ist es wichtig, dass du zu dir selbst Sorge trägst und deine Grenzen kommunizierst. Nur wenn es dir physisch und psychisch gut geht, kannst du dich für dich und deine Mitmenschen einsetzen.

Was wenn nun aber trotz all deiner Bemühungen etwas passieren sollte?

– Bringe dich in Sicherheit! Verlasse die Situation, ruf eine Vertrauensperson an oder kontaktiere die Polizei. *(Infobox)

– Sobald du in Sicherheit bist, denk dran: Du trägst keine Schuld! Du hast ein Recht auf Unversehrtheit wie alle anderen Menschen auch.

– Suche eine Vertrauensperson auf. Wenn du kannst, erzähle ihr vom Vorfall. Vielleicht kann sie dich dabei unterstützen, dir die Hilfe zu holen, die du brauchst.

In unserer Hilfe-Ecke auf Seite 20 findest du einige Anlaufstellen, welche dir in solchen Fällen weiterhelfen können.

Möchtest du auch einen Selbstverteidigungskurs besuchen? Nebst der LOS bietet zum Beispiel auch Pink Cross Kurse an. Im feministischen Streikhaus in Zürich werden ebenfalls Selbstverteidigungskurse, insbesondere für trans, inter und nicht-binäre Menschen angeboten. Die Angebote des Streikhaus werden in der Streikhausagenda auf Telegram bekanntgegeben: https.://t/me.streikhaus

Infobox Polizei

Leider erleben wir auch von Seiten der Polizei her immer wieder queerfeindliche Gewalt. Diese Gewalt ist systemisch bedingt, d.h. die Polizei als Institution gilt es kritisch zu hinterfragen. Insbesondere BIPoC (Schwarze und Indigene Menschen, sowie People of Color) und trans Menschen sind von Polizeigewalt betroffen. Trotzdem ist der Weg über die Polizei manchmal der einzige. Falls du zur Polizei gehen willst oder musst, kannst du eine Begleitperson mitnehmen (z.B. von der Opferhilfe, der LGBTIQ-Helpline oder deine Vertrauensperson).

Da eine der Kursleiterinnen ehemalige Polizistin ist, sehen sich manche queere Menschen nicht vom Kurs angesprochen. Nathalie ist sich diesem Umstand bewusst, versucht aber durch ihr Wissen queeren Menschen im Umgang mit der Polizei zu helfen.

Für mich persönlich war der Kurs sehr lehrreich und trotz den schwierigen Themen auch unterhaltsam. Ich genoss es ein Wochenende mit queeren Menschen zu verbringen und fühlte mich mit Olivia und Nathalie sehr wohl.

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