Geschichte des Begriffs
Der Begriff «Intersektionalität» geht zurück auf Kimberlé Crenshaw, eine Schwarze Professorin an der Universität California in Los Angeles. Sie lehrt zum Zivilrecht, das ist der Teil des Rechts, der die Beziehungen der Bürger*innen untereinander regelt, und beschäftigt sich dabei vor allem mit Race und sozialer Gerechtigkeit. Im Jahr 1989 veröffentlichte sie einen Artikel zum Schnittpunkt von Race und Geschlecht, also darüber, wie diese Identitäten zusammenspielen. Sie analysiert mehrere Gerichtsfälle, in denen Schwarze Frauen ungerecht behandelt wurden. Einen davon erkläre ich nun zur Veranschaulichung:
Fünf Schwarze Frauen klagten 1976 General Motors (ein amerikanischer Autohersteller) an. Schwarze Frauen wurden erst nach 1964 bei GM angestellt, denn dann wurde ein Gesetz zum Diskriminierungsschutz erlassen. Anfang der 1970er-Jahre gab es eine Wirtschaftskrise und GM entliess Personen, basierend darauf, wie lange sie bereits angestellt waren. Das traf Schwarze Frauen besonders, denn sie wurden ja erst seit 1964 von GM angestellt. Alle Schwarzen Frauen, die nach 1970 angestellt wurden, verloren ihren Job während der Wirtschaftskrise. Die fünf Frauen klagten also GM an, da sich die Diskriminierung vor 1964 auf die jetzigen Entlassungen auswirkte, Schwarze Frauen stark benachteiligt wurden und GM nichts dagegen unternahm. Das Gericht urteilte, dass keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliege, denn GM habe bereits vor 1964 Frauen angestellt, also seien Frauen auch nicht übermässig von der Entlassungswelle betroffen. Natürlich handelte es sich dabei um weisse Frauen, doch dieser Unterschied war dem Gericht wohl egal. Weiter empfahl das Gericht, dass sich die Frauen für den Race-Aspekt der Klage einem anderen Gerichtsverfahren anschliessen sollten. Dieses andere Verfahren wurde jedoch von Schwarzen Männern gegen GM gestartet und ging daher nicht auf die spezifische Diskriminierung ein, die die Schwarzen Frauen traf.
Kimberlé Crenshaw fasst zusammen: Diskriminierungsfälle werden tendenziell in Bezug auf die privilegierteste Gruppe betrachtet. Das heisst, dass in Fällen von Sexismus weisse cis Frauen mit Klassenprivilegien als Vergleichsmassstab gelten; in Fällen von Rassismus Schwarze cis Männer mit Klassenprivilegien usw. «Durch diese Konzentration auf die privilegiertesten Mitglieder einer diskriminierten Gruppe werden diejenigen, die Mehrfachdiskriminierung erfahren, an den Rand gedrängt und ihre Anliegen unsichtbar gemacht.»
Was bedeutet das heute?
Dank der Arbeit von Kimberlé Crenshaw haben wir heute ein besseres Verständnis dafür, wie Mehrfachdiskriminierung funktioniert. Was fürs Verständnis besonders wichtig ist: Intersektionalität bedeutet nicht bloss, dass mehrere Diskriminierungsformen addiert werden, sondern dass sie kombiniert werden und dadurch neue Diskriminierungsformen entstehen. Beispielsweise erhalten Frauen mit einer Krankheit oder Behinderung oft schlechtere medizinische Versorgung, da viele Medikamente und Methoden nur an cis Männern getestet wurden. Hier spielen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und Krankheit zusammen. Ausserdem ist der Begriff nicht dafür gemacht, um auf einzelne Personen angewendet zu werden. Es geht also nicht darum, dass du die Personen in deinem Umfeld einzeln nach ihrer Diskriminierungserfahrung kategorisierst (im Sinne von: Blue ist eine nichtbinäre weisse Person, Josef ein Schwarzer trans Mann). Es ist hilfreicher, wenn du dir ins Gedächtnis rufst, dass du und deine queeren Friends zwar alle Queerphobie kennt, aber eure Erfahrungen deshalb nicht zwingend dieselben sind, sondern auch von anderen Diskriminierungsformen beeinflusst werden. Ausserdem geht es in der Intersektionalität auch darum, Bedürfnisse von mehrfachdiskriminierten Gruppen zu beschreiben und dann Massnahmen zu ergreifen, um diesen Gruppen entgegenzukommen. Das ist dann in der Politik wichtig, oder bei der Organisation eines Events. Da lohnt es sich, Fragen zu stellen wie: Für wen ist dieser Ort zugänglich? Gibt es eine Möglichkeit, Räume barrierefrei zu machen oder vergünstigte Tickets zur Verfügung zu stellen? Schlussendlich ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass sich eigene Erfahrungen von anderen unterscheiden. Es ist entscheidend, dass wir einander zuhören und Lernbereitschaft zeigen, wenn wir die Lebensrealität unseres Gegenübers nicht kennen.